Von Gut und Böse?

Original: http://ganzkonkret.de/artikel/SaiBaba.html

"Missbrauch" und "Taschenspielertricks" – die Vorwürfe gegen Sai Baba

Ist der weltweit von Millionen von Anhängern hingebungsvoll als "Gott in Menschengestalt" verehrte, wundertätige südindische Guru Sathya Sai Baba tatsächlich ein Betrüger und vielfacher sexueller Missbrauchstäter? Ex-Jünger klagen den klein gewachsenen 78-jährigen mit der markanten Afrofrisur in unzähligen Internet-Veröffentlichungen und Zeitungsberichten an, ebenso in kritischen Dokumentarfilmen wie etwa die des dänischen National TV (2002: "Seduced by Sai Baba") oder des britischen BBC (2004: "Secret Swami").

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Sathya Sai Baba – Anspruch, Lehre, Wirkung
 

»Nicht Meine Worte, sondern Meine Taten sind Meine Botschaft« sagt Sai Baba, der inzwischen grob geschätzt 10 bis 50 Millionen Anhänger hat. Seine Lehre ist die Kompaktform eines mit christlichen, buddhistischen und anderen Elementen vermischten Hinduismus, dessen Praxis die Sathya Sai Organisation (SSO) in ihren 2650 Zentren und Gruppen in 165 Ländern anbietet. In Deutschland gibt es 14 Zentren, 38 regionale Gruppen und um die 30.000 Anhänger. Die Jünger heißen offiziell Devotees, was so viel heißt wie »treu Ergebene«. Seinem eigenen Anspruch nach ist Sathya Sai Baba die »Verkörperung der Glückseligkeit, die Liebe selbst und Gottvater, der im Zentrum aller Religionen und spirituellen Praktiken steht«.

Die indische und weltweite Begeisterung über den Guru ist seit über fünf Jahrzehnten so groß, dass der 1948 noch recht klein gegründete Ashram Prashanti Nilayam in Puttaparthi (nordöstlich von Bangalore) zu einer sehr gut erschlossenen Kleinstadt mit zeitweise bis zu 10.000 Bewohnern anwuchs. Für Puttaparthi, den Geburtsort des Swamis mit dem leuchtend orangefarbenen Gewand und der markanten Afrofrisur, ist Prashanti Nilayam inzwischen zu einem gewaltigen Wirtschaftsfaktor geworden.

In den Ashrams, Zentren und Gruppen singen die Baba-Jünger heilige Lieder, üben sich im selbstlosen Dienen, in der Mantra- und Lichtmeditation und verinnerlichen die »fünf menschlichen Werte« Wahrheit, Rechtschaffenheit, Gewaltlosigkeit, Liebe und Frieden. So auch die Jungen und Mädchen in den weltweit rund 75 Sai-Baba-Grundschulen und Colleges. Das Sri Sathya Sai Institute of Higher Learning, das Schulen unter anderem in den USA, in Kanada und in Australien unterhält, bietet kostenlose Bildung im Sinne Sai Babas an.
mischo / Connection spirit im März 2005


Mit "The Findings" lieferten die englischen Ex-Anhänger David und Faye Bailey im Jahr 2000 das bekannteste, im Internet frei zugängliche Dokument. Darin fassten sie eigene langjährige Beobachtungen und verschiedene Zeugenaussagen zusammen, darunter die des Schweden Conny Larsson. Der frühere Schauspieler und Chef der schwedischen Sathya Sai Organisation (SSO), bereits als Kind Missbrauchsopfer, will bei Sai Baba dasselbe Trauma erneut erlebt haben. Mehrmals habe ihn dieser zu Sex gezwungen. Der Münchner Jens Sethi berichtet, er sei heftig unter Druck gesetzt worden. Das sind nur zwei von vielen nicht offiziell überprüften Beispielen.

Bereits seit den 70er Jahren sollen Missbrauchsgerüchte in und um den Ashram im südindischen Puttaparthi kursieren. Erstes schriftliches Dokument ist das Buch "Lord of the Air" des Ex-Jüngers Tal Brooke von 1979. Genannt wird auch ein Skandal mit Sai-Schülern, die aus Malaysia stammen, von 1980. In den 90er Jahren verließen viele Franzosen und Ungarn wegen Missbrauchsbehauptungen von Landsleuten ihre Sai-Baba-Gruppen. Die schwedische SSO löste sich ganz auf.

Ein Teil der Vorwürfe wurde inzwischen auch von verschiedenen internen Stellen der Sai Baba Organistion bestätigt, darunter vom dänischen SSO-Europakoordinator Thorbjorn Meyer. Sai Baba ölt offenbar ausgewählten jungen Männern in so genannten "Privatinterviews" die Genitalien. Angeblich als spezielle Einweihung, die die Erweckung der Kundalini-Energie unterstützt. Der Guru billigt sie allerdings angeblich nur Jugendlichen und Männern zu.

Bis hierher fühlen sich Anhänger vielleicht noch in der Gnade Gottes, auch wenn sie auf den Griff unter die Gürtellinie irritiert reagieren. Doch gibt es viele wesentlich weiter reichende Vorwürfe. Einen lieferte der stärkste indische Kritiker Sai Babas, Basava Premanand: Er veröffentlichte einen anonymen Brief aus einer Sai-Baba-Schule in Puttaparthi, aus dem hervorgeht, dass "mädchenhafte Jungs" aus Grundschule und College dem Meister regelrecht vorgeführt würden, weil er bekanntermaßen eine Schwäche für sie hätte. Sie bekämen "Privatinterviews", in denen er sie aus "spirituellen Gründen" unangemessen intim berühre. Premanand forderte das Sri Sathya Sai Institute of Higher Learning zur Stellungnahme auf. Nachdem eine Antwort ausblieb, veröffentlichte er im August 1999 den anonymen Brief im "Indian Skeptic". Aber auch hier gilt: Es handelt sich um unbewiesene Behauptungen.

Laut Kritikern wie Premanand, dem früheren Sai-Security-Mitarbeiter Hari Sampath, dem australischen Gelehrten Brian Steel sowie Bailey oder Larsson besteht das ganze göttliche Gebilde Sathya Sai Baba aus Lug und Trug. Seine viel gepriesenen Wundertaten: nichts als fauler Zauber. Nie habe er wirklich heilige Asche (Vibhuti) oder Schmuck materialisiert oder eiförmige, heilige Steine (Lingams) tatsächlich in seinem Körper "produziert", bevor er sie feierlich hervorwürgte. Alles basiere nur auf Tricks. Ex-Anhänger wollen gesehen haben, wie Baba versehentlich Aschepillen fallen ließ, die er später zerrieb. Schmuck habe er unter Briefen hervorgezogen, die er in der Hand hielt. Auf ihrer Internetseite bieten Ex-Babas mehrere Beweisfilmchen zum Download an, die den Verdacht ein wenig nähren.

Zu keinem Ergebnis kam dagegen der Psychologieprofessor Erlendur Haraldsson, der auch Phänomene, wie das gleichzeitige Auftreten Babas an zwei Orten oder die angebliche und sehr umstrittene Auferweckung von Toten, durch jahrelange Beobachtungen und Zeugenbefragungen untersuchte. Zumindest fand er "keinen einzigen direkten Nachweis für einen Betrug", wie er in seinem Buch "Sai Baba, ein modernes Wunder" von 1986 schreibt. Der kraushaarige Meister selbst verweigert sich einer offiziellen wissenschaftlichen Untersuchung unter kontrollierten Bedingungen. Bereits 1968 hatte er unmissverständlich klar gemacht, dass er sich zu Täuschung und Blendwerk nie herablassen würde.

Dagegen kritisiert der australische Gelehrte Brian Steel, dass hauptsächlich die gutgläubigen Anhänger zu dem Mythos Sai Baba beigetragen hätten. In Wirklichkeit sei ein großer Teil der Vita mitsamt der Wundertätigkeit konstruiert und werde ohne Überprüfung weiter getragen. Auch die Lehren bleiben von der Kritik nicht verschont: Der frühere norwegische SSO-Koordinator Robert Priddy wirft dem angeblich Allwissenden grundlegende Fehler in seinen Predigten vor.

Der Beschuldigte selbst zeigt sich ungerührt. "Er ist unbefleckt" vermeldete der SSO-Präsident, Michael Goldstein, nachdem er seinen Meister direkt mit den Missbrauchsvorwürfen konfrontiert hatte. Eine offizielle gerichtliche Untersuchung kommt für Goldstein nicht in Frage, weil das eines Sai Babas "nicht würdig wäre". Lüsterne Übergriffe hält er nach eigenem "Herzen und Gewissen" ohnehin für absolut unmöglich.

Jeder Baba-Getreue steht nun vor der extrem schwierigen Frage: Darf ein Guru, der einen absoluten unerschütterlichen Glauben in seine "Person" fordert, überhaupt hinterfragt werden, egal was er tut? Wer kann denn, bevor er selbst Meister ist, einen Meister ernsthaft beurteilen, geschweige denn verurteilen? Der große tibetische Guru Padmasambhava, der als zweiter Buddha gilt, sieht von Anfang an beide Seiten in der Pflicht. Der Lehrer müsse seine Schüler testen, umgekehrt aber auch. "Den Lehrer nicht prüfen, heißt Gift trinken", warnte er eindringlich. Verkörpere der angeblich Erhabene keine bedingungslose Liebe und kein unbegrenztes Mitgefühl, Finger weg! Wenn aber doch, dann sei es absolut notwendig, nicht mehr zu zweifeln und sich vertrauensvoll hinzugeben. Nur so sei echtes spirituelles Wachstum möglich.

Sai Baba behauptete stets, nichts anderes zu tun, als rigoros "die Wahrheit aufzurichten", so dass jeder Mensch den göttlichen Funken in sich erkennen könne. Wer dazu noch nicht fähig sei, der könne ihn unmöglich verstehen. Einen hingebungsvollen Beitrag hierzu liefert der Baba ergebene Ram Das Awle auf seiner Homepage "A Clear View": "Ich glaube, dass Sathya Sai Baba eine volle Inkarnation Gottes ist. UND ich halte es für glaubhaft, dass Er gelegentlich sexuellen Kontakt mit Anhängern hatte", schreibt er provozierend. Der Intimkontakt habe einen "außergewöhnlichen spirituellen Nutzen", sexuelle Begierden seien nicht im Spiel, nur der Wunsch, "dich von deinem Karma und geistigen Hindernissen zu befreien."

Übler Zynismus oder letzte Wahrheit? Wie kann vor dieser heiklen Frage die Welt mit den heftigen Anschuldigungen gegen einen Mann umgehen, der neben indischen Politikern, Juristen und Beamten auch Einfluss auf internationale Staatsmänner und wichtige Persönlichkeiten hat? Das US State Departement veröffentlichte vorigen Mai online eine bis heute gültige Reisewarnung, worin sie US-Bürger vor einem "prominenten lokalen Religionsführer aus einem Ashram in Andhra Pradesh" warnen, der laut unbewiesener Berichte gegenüber jungen männlichen Anhängern ein "unangebrachtes sexuelles Verhalten" gezeigt habe. Die UNESCO verweigert seit vier Jahren jegliche Zusammenarbeit mit der Sai-Organisation. Das britische Parlament befasste sich vor zwei Jahren mit den Anschuldigungen.

Im zuständigen Gerichtsdistrikt in Indien liegt jedoch bisher nichts gegen den Guru vor. Unter dem Namen JuST – Just Seeker of Truth (Wahrheits- und Gerechtigkeitssuchende) fordern die Ex-Babas seit vier Jahren vergeblich Regierungen, Menschenrechtsinstitutionen, spirituelle Führer, Politiker und Medien aller Länder zu einer offiziellen Untersuchung auf. Nicht ohne selbst kritisiert zu werden. Ein gewisser Gerald Moreno wirft JuST zu Recht vor, per Mail gesendete Beiträge ohne Überprüfung zu veröffentlichen. Zudem stellt er einige angebliche Fakten und Darstellungsweisen – auch in den "Findings" – berechtigterweise in Frage. Missbrauchsvorwürfe müssten untersucht werden, fordert er, eine Hetzjagd jedoch könne niemand ernsthaft wollen.

MICHAEL SCHOLZ / Connection spirit, März 2005