Zum Beispiel: Sathya Sai Baba
Original: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur13411.htm
"Religiöse Abhilfe findet sich im [zu Bangalore] nahe gelegenen Ashram Brindavan. Hausherr Sai Baba, dem am 23. November dieses Jahres ein Stadion voller Anhänger zum 75. Geburtstag gratulierte, nennt sich ohne falsche Bescheidenheit Bhagwan-der Noble, der Heilige, der Erhöhte, kurzum: Gott. Kein Wunder, dass er sich selbst zu Ehren einen Tempel mit klassizistisch-orientalischen Kuppeln hat errichten lassen (wer als Gott sonst noch neben ihm steht, kümmert Sai Baba wenig, weswegen Menschen aller Konfessionen zu ihm pilgern). Der Ashram ist so streng bewacht wie der Techno-Park. In beiden Fällen obliegt die Verantwortung für die Sicherheit pensionierten Offizieren der indischen Armee, steif-schlanken Asketen, die in einem merkwürdigen Gegensatz zu den barocken architektonischen Manifestationen ihrer jeweiligen Arbeitgeber stehen.
Sai Baba dürfte der politisch einflussreichste Guru Indiens sein. Zum Geburtstag wartete ihm eine Galerie von Ministern und Philistern auf. Der Wundertätige ist zwar schon mehrfach des Betrugs entlarvt worden -- seine Materie-Ist-EnergiePhilosophie erwies sich als billiger Zaubertrick --, neuerdings jedoch geriet er abermals in unrühmliche Schlagzeilen. Eine Reihe ehemaliger Verehrer haben ihn des sexuellen Missbrauchs bezichtigt und Medien in Australien, Schweden, London und München orale Details anvertraut. Der Skandal sickerte - wie so oft - zuerst ins Internet. Für wahre Gläubige kein Grund zur Skepsis, denn der Guru lehrt, dass "wir nicht ins Internet, sondern ins innere Netz blicken sollten". Zudem sei jede Handlung des Babas ein "Lehren" - was Unverständigen falsch oder verwerflich erscheinen mag, wird zweifellos trotzdem seinen rechten Grund und Sinn haben. Dem Erfolg des aus ärmlichen Verhältnissen in die Sinnstiftungselite aufgestiegenen Sektenführers wird diese Kontroverse wenig anhaben können. Das gerade fertig gestellte Shri Sai Baba Institute of Higher Learning, ein gigantischer " When-Xanadu-meets-Stalin-Bau", setzt den Errungenschaften des Heiligen ein philanthropisches Denkmal. Sai Baba scheint die okkulten Bedürfnisse der Ersten Welt ebenso effizient zu befriedigen wie der Techno-Park die professionellen."
[Trojanow, Ilija <1965 - >: Der Sadhu an der Teufelswand : Reportagen aus einem anderen Indien. -- München : Sierra, ©2001. -- ISBN 3894051299. -- S. 108f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]
"Zu den herausragenden Gestalten der indischen Guru-Szene, deren Wirken auch im Westen immer spürbarer wird, gehört sicherlich Sathya Sai Baba (SSB), der allein schon durch seine äußere Erscheinung wohl den größten Wiedererkennungswert aller Gurus besitzen dürfte. Von kleiner und gedrungener Figur, die ein bis auf die Füße fallendes, rot-oranges Gewand noch unterstreicht, wird sein massiger Kopf von einer für indische Verhältnisse höchst ungewöhnlichen Kraushaar-Frisur im Afro-Look umrahmt. Wie viele andere Gurus, die sich in ihrer je besonderen Weise exponieren, hat auch "Baba" nicht nur Freunde und Anhänger; im Gegenteil. "Wahrscheinlich ist heute niemand in ganz Indien mehr umstritten als Bhagawan Sri Sathya Sai Baba", meint ein Anhänger; "für Millionen von Gottergebenen ist Er ein Avatar, der die Kräfte der Allwissenheit, Allgegenwart und Allmacht offen zeigt. Von anderen wird er als Scharlatan bezeichnet, dessen Name allein schon harte Kontroversen hervorruft" (>Darshan< Material Ausberg, Hamburg).
Wer ist nun dieser umstrittene, unter dem angenommenen Namen "Sathya Sai Baba" (= der, der in Wahrheit Sai Baba ist) bekanntgewordene indische Guru? Eine kritische Biographie scheint bisher noch nicht vorzuliegen. Und die zugänglichen, aus seinem engeren Umfeld stammenden Materialien bieten nur wenige historisch verlässliche Daten, da sie ein Bild von ihm zeichnen, das im wesentlichen der Kategorie "Heiligenlegende" zuzurechnen ist.
Demzufolge wurde er am 23. November 1926 als viertes von fünf Kindern im Hause eines Pedda Venkapa Raju und seiner Frau Easwarama Raju in Puttaparthi, Distrikt Anantapur im Staate Andra Pradesh, geboren; er erhielt den Namen Ratnakaran Sathyanarayan Raju, wobei "Raju" die Kaste der Familie bezeichnet.
Die Geburt selbst soll von merkwürdigen Zeichen begleitet gewesen sein. So wird etwa berichtet, dass im Hause aufgehängte Musikinstrumente von alleine zu spielen begannen und sich eine Kobra unter der Liege des Neugeborenen ringelte, ohne dem Kind etwas zu tun (vgl. H. Murphet, 60 f.). Zudem gilt der Geburtsmonat November (karthika) den Hindus als heilig, eine Zeit der besonderen Verehrung des Gottes Shiva.
Seine Schulzeit begann in der kleinen Dorfschule in Puttaparthi und wurde später auf der Mittelschule ("high school") in Uravakonda, etwa 90 km nordwestlich von Puttaparthi, fortgesetzt. Der kleine Sathyanarayan soll dabei weniger am Lehrstoff als am Singen religiöser Lieder (bhajans) und am Laienspiel interessiert gewesen sein. Noch vor seinem 14. Lebensjahr verließ er die Schule. Obwohl "klüger als seine Lehrer" und mit "göttlichen Fähigkeiten ausgestattet" (Murphet, 63), ist von irgendwelchen qualifizierten Schulabschlüssen nichts bekannt.
Das Jahr 1940 brachte, den Berichten seiner Anhänger zufolge, wohl einige Ereignisse, die die Weichen für Sathyanarayans künftige Laufbahn als Guru und "Wunderheiliger" stellten. Am 8. März dieses Jahres erlitt er wahrscheinlich eine Art Anfall (manche vermuten die Ursache in einem Skorpionstich), als dessen Folge er ein merkwürdiges Benehmen an den Tag legte. Unmotiviertes Weinen und Lachen wechselte mit Phasen lauten Singens, Textrezitationen mit Zeiten völliger Geistesabwesenheit. Als keine Besserung eintrat, bemühten die Eltern, da sie ihren Sohn für besessen hielten, einen Exorzisten, was allerdings auch keinen Erfolg hatte.
Am Morgen des 23. Mai rief Sathyanarayan Familienmitglieder und Freunde zusammen und beschenkte sie mit Blumen und Süßigkeiten, die er "durch eine bloße Bewegung seiner Hand" soeben aus der Luft "materialisiert" hatte. Daraufhin strömten die Nachbarn herbei, die auf gleiche Weise süße Reisbällchen bekamen. Der wütende, mit einem Stock bewaffnete Vater drängte sich zu ihm vor und schrie: "Das muss aufhören! Bist du ein Geist oder ein Verrückter? Sage es mir!" Als Antwort gab der Junge folgende "Offenbarung": "Ich bin Sai Baba. Ich gehöre zur Apastamba Sutra, der Schule des Weisen Apastamba, und stamme aus der spirituellen Linie des Bharadvaja. Ich bin Sai Baba. Ich bin gekommen, um alle Sorgen von euch fernzuhalten. Bewahrt eure Häuser sauber und rein." (Fanibunda, Vision, 3) (Apastamba gilt als der Verfasser eines dharmashastra/Gesetzbuch, und Bharadvaja wird von den Hindus als einer der sieben mythischen, dem Kopf des Gottes Brahma entsprungenen rishis [= Seher] verehrt, die den Brahmanismus begründet haben sollen.)
Die Erwähnung des Namens "Sai Baba" schien auf die Anwesenden wie elektrisierend zu wirken. Man beschloss, den Jungen zu einem in der Nähe wohnenden, "fachkundigen" Anhänger des 1918 verstorbenen Sai Baba von Shirdi zu bringen, um die Sache überprüfen zu lassen. Der betreffende Fachmann erklärte die ganze Angelegenheit zu einem Fall geistiger Verwirrung und gab den Rat, den Jungen in eine Anstalt zu bringen. Dieser reagierte daraufhin mit den Worten: "Ja, es ist eine geistige Verwirrung, aber wessen? Sie können den wahren Sai, den Sie verehren, nicht erkennen!", und soll dabei begonnen haben, "Heilige Asche", die er "aus der Luft materialisierte", im Raum zu verstreuen (N. Kastur, Sathyam Shivam Sundaram II).
Der 20. Oktober 1940 markiert für die "Baba"-Gläubigen einen weiteren Einschnitt auf dem Wege ihres Guru. An diesem Tage habe er sich von seiner Verwandtschaft losgesagt und seine Rolle als Familienmitglied "Sathyanarayan" mit den Worten beendet: "Ich gehe jetzt; ich gehöre nicht mehr zu euch. Ich muss meine Aufgabe erfüllen; meine devotees warten auf mich." Als sein Vater ein Zeichen für die Echtheit seiner Behauptung verlangte, ließ er sich eine Handvoll Jasminblüten geben, die er in die Luft warf. Auf den Boden gefallen, sollen diese dann den Namenszug "SAI BABA" in seiner Muttersprache Telugu gebildet haben (Fanibunda, Vision, 3).
Um nun den speziellen Bezug und Hintergrund dieser Legendenberichte etwas besser zu verstehen, sind einige Hinweise auf den von Sathyanarayan Raju in Anspruch genommenen Sai Baba von Shirdi nötig. Shirdi ist ein kleines Dorf am Godavari-Fluss im Ahmednagar-Distrikt/Maharashtra, östlich von Bombay.
Die familiäre Herkunft des Shirdi-Baba und die Umstände seiner Geburt (Ort und Datum) liegen im dunkeln. "Baba hat seinen devotees in Shirdi das Geheimnis seiner Geburt oder sein Leben aus der Zeit, bevor er nach Shirdi kam, nie enthüllt." (Fanibunda, 2) Die indische Anglistin und Shirdi Baba-Anhängerin Mani Sahukar vermutet, dass Sai Baba wahrscheinlich in den 30er Jahren des vorigen Jh. als Kind brahmanischer Eltern im indischen Nizam zur Welt gekommen, von diesen aber bald ausgesetzt und dann von einem moslemischen Fakir aufgenommen worden sei. Historisch zu belegen ist, so M. Sahukar, dass er als 16jähriger das erste Mal für vier Jahre nach Shirdi kam, danach für einige Zeit verschwand und 1859 wieder in dieses Dörfchen zurückkehrte, wo er ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode 1918 blieb (Sai Baba - The Saint of Shirdi, 16).
Sein Leben lang hauste Sai Baba in der verlassenen, halbverfallenen Dwarka (= Gnaden)-Moschee, nachdem er, bald nach seiner Ankunft in Shirdi, aus einem kleinen Hindu-Tempel vertrieben worden war. Als ein charakteristisches Kennzeichen dieses Guru wird in den vorliegenden Berichten sein merkwürdiges Pendeln zwischen Hinduismus und Islam gesehen. M. Sahukar etwa schreibt: "Der Heilige von Shirdi verwirrte seine Bewunderer. Keiner konnte herausfinden, ob er Hindu oder Moslem war. Er kleidete sich wie ein Moslem und trug gleichzeitig die Kastenzeichen eines Hindu. Wenn die Hinduvertreter stolz darauf waren, dass Baba gemäß der hinduistischen Tradition ständig ein heiliges Feuer brennen hatte, so mussten sie andererseits widerwillig zugestehen, dass er in einer Moschee lebte. Er zitierte den Koran und erfreute seine moslemischen Verehrer, die sich andererseits mit seiner umfassenden Kenntnis hinduistischer shastras nicht abfinden mochten. (. . .) Dass Rama (der Gott der Hindus) und Rahim (der Gott der Moslems) ein und derselbe seien, war seine ständige Rede im Kreis seiner Anhänger." (Sai Baba - The Saint of Shirdi, 18 f.)
Die überlieferten Lehren und religiösen Vorstellungen des Shirdi Baba waren jedoch eindeutig hinduistisch geprägt, wodurch auch sein Selbstverständnis als Guru bestimmt wurde. Er predigte "Gott" als das formlose Absolute (brahman), das identisch sei mit dem Selbst (atman) des Menschen. Erlösung erreiche der Mensch durch das "Realisieren" des Selbst auf dem Wege der Erkenntnis, dass er das "Göttliche" in sich trage. Dazu verhelfe die liebende Hingabe an einen Guru, der schon als "Gottrealisierter" gelte (in diesem Falle an ihn selbst). "Surrender to the Guru, trust the Guru fully - Guru is all the Gods" wird als sein Lieblingsausspruch tradiert. "Wenn ein devotee mir sein ganzes Leben übergibt, braucht er um Körper und Seele keine Angst mehr zu haben; . . . werft alle Lasten auf mich, ich werde sie tragen." (Sai Baba - The Saint of Shirdi, 23) Noch deutlicher wird sein Selbstverständnis als Verkörperung des "Göttlichen" durch seine Identifikation sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Gottheiten bzw. mit androgynen Gottheiten. Sai Baba sagte von sich: "Ich bin Gott. Ich bin Mahalaxmi. Ich sitze da in der Moschee und verkünde die Wahrheit. (. . .) Ich bin Laxmi Narayan. Warum an den Ganges pilgern? Haltet eure Hände an meine Füße - hier fließt der Ganges." (Sai Baba - The Saint of Shirdi, 60)
So war es denn ganz folgerichtig, dass er im Laufe der Zeit eine große Anhängerschar gewann, besonders auch aufgrund von Wundertaten und Wunderheilungen, die man ihm zuschrieb oder selbst erlebt haben wollte. Es wird berichtet, dass er z. B. seine Öllampen zeitweise mit Wasser betrieb, wie Christus einen Sturm stillte, den Elementen der Natur gebot und Kranke mit der Asche seines ständig brennenden Feuers heilte.
Am 15. Oktober 1918 stirbt der Shirdi Baba in seiner Moschee. Ein Hinweis von ihm, dass er sich acht Jahre nach seinem Tode erneut inkarnieren würde (wie von Sathya Sai Baba und seiner Bewegung behauptet), findet sich in den entsprechenden Materialien nicht. Dagegen verehren seine Anhänger heute zwei andere Personen gleichsam als Nachfolger: den 1870 geborenen und im Dezember 1941 verstorbenen Kasinath Govinda Upasani Shastri, genannt Sri Upasani Baba Maharaj, und die seitdem amtierende, 1914 geborene "Heilige Mutter" Sati Godavari Mataji. Der Name Sathya Sai Baba taucht in diesem Zusammenhang nirgends auf.
Nachdem Sathya Sai Baba sich von seiner Familie getrennt und selbständig gemacht hatte, begann seine Anhängerschar in den 40er Jahren stetig zu wachsen, besonders aufgrund der umlaufenden Wunderberichte.
Im November 1950 konnte er in Puttaparthi sein eigenes Prashanti Nilayam (= Wohnstätte des großen Friedens) genanntes Zentrum beziehen, das im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Ort in der "heiligen" Geographie Indiens wurde. War bis dahin der Name Sathya Sai Baba zunächst nur in seiner engeren Heimat ein Begriff, so machten verschiedene, in den 50er Jahren unternommene Reisen zu den "heiligen Stätten" des Nordens ihn auch dort bekannt.
Der Sommer 1963 brachte eine weitere "Offenbarung", die im Hinblick auf sein Selbstverständnis diejenige von 1940 noch übertraf. Am 29. Juni dieses Jahres erlitt "Baba" wiederum einen Anfall, dessen äußere Anzeichen sein enger Vertrauter und Biograph N. Kasturi so beschreibt: "Das Gesicht wurde schief, die Muskeln zogen den Mund auf die linke Seite, . . . die Zunge hing heraus. Das linke Auge schien die Sehkraft verloren zu haben." (Sathyam, 79) Das einsetzende Koma (ein Arzt diagnostizierte "tuberkulöse Meningitis") dauerte eine Woche. Am achten Tag besserte sich der Zustand, und "Baba" trat vor eine große Menge seiner Anhänger, denen er mitteilte, er sei in Wirklichkeit gar nicht krank gewesen, sondern habe diesen Zustand nur stellvertretend für einen sehr kranken devotee auf sich genommen, um diesen zu heilen. Gleichzeitig kündigte er die Enthüllung eines Geheimnisses an, das er von Anfang an für sich behalten habe: Er sei nämlich die Verkörperung des Hindu-Gottes Shiva und seiner Shakti (das personifizierte weibliche Element Shivas). Außerdem "offenbarte" er, dass es insgesamt drei "Sai-Inkarnationen" in der Tradition des Bharadvaja geben würde, wobei er seinerzeit in der Gestalt des Sai Baba von Shirdi nur Shakti allein verkörpert habe, jetzt als Sathya Sai Baba sowohl Shiva als auch Shakti repräsentiere und in einer zukünftigen, unter dem Namen "Prem Sai", im Manya Distrikt/Karantaka stattfindenden Inkarnation dann noch einmal als Shiva allein gegenwärtig sein werde (Fanibunda, Vision, 10). Inzwischen beansprucht "Baba" nicht nur eine Inkarnation von Hindu-Göttern, sondern auch eine von Jesus Christus zu sein. Die Begründung dafür sieht der indische Kenner der Guru-Szene Vishal Mangalwadi im sprunghaften Anwachsen der Zahl westlicher Anhänger (The World of Gurus, 151). Seine jetzige Inkarnation soll 96 Jahre dauern, wobei sein Körper jedoch jung und frisch bleibt.
1968 erklärte "Baba", dass es seine Mission sei, den spirituellen Glanz Indiens wiederherzustellen; er wolle in seinen Anstrengungen nicht nachlassen, bis dieses Ziel erreicht sei. Indien solle dabei jedoch nur als Zugpferd dienen, um schließlich die ganze Menschheit spirituell zu erneuern. Alle Nationen der Welt seien quasi Eisenbahnwaggons, Indien die Lokomotive und "Baba" der Lok-Führer (Mangalwadi, 151).
Allmählich begann sich die Bewegung zu etablieren und zu strukturieren. Es wurden verschiedene Komitees und Trusts gebildet; Dienstgruppen für Frauen und Männer gegründet; Schulen, Hospitäler und Colleges in Betrieb genommen und die entsprechenden nationalen und internationalen Konferenzen abgehalten.
Am 6. Mai 1972 stirbt "Babas" Mutter Easwarama in Puttaparthi. Damit beginnt eine institutionalisierte Verehrung der "Heiligen Mutter" mit dem festen, alljährlich zelebrierten Gedenktag am 6. Mai.
Einen gewissen Höhepunkt bzw. eine Konzentration erreichte die Entwicklung mit der am 1. Oktober 1976 in Prashanti Nilayam erfolgten Proklamation der "Sai-Religion", einer "Religion der Liebe", verstanden als die Zusammenfassung der Substanz aller Religionen, einschließlich Judentum, Christentum und Islam, da deren "Gründer" ebenfalls "das Gute wollten" und "von Liebe erfüllt" waren (Fanibunda, Vision, 108).
Den devotees trug "Baba" zum Schluss seiner Ansprache auf: "Wenn Ihr, die Ihr Mitglieder der Sathya-Sai-Organisation geworden seid, nach der Religion des Sathya Sai und seiner Organisation gefragt werdet, so solltet Ihr den Mut und die Entschiedenheit haben, mit einer Stimme zu sagen: Das Wesentliche aller Religionen ist die Religion der Sathya-Sai-Organisation." (Fanibunda, Vision, 109)"
""Babas" Wunderwerk
Als charakteristisches Kennzeichen des Kultes, hier verstanden als das Beziehungsgeflecht zwischen dem Guru und seinen Anhängern, müssen wohl die angeblichen "Wunder" gelten, von denen "Baba"-Gläubige ständig, aber auch Außenstehende hin und wieder berichten. Zwar wird vom Guru und seinen Funktionären auf der einen Seite versucht, die Bedeutung dieser "Mirakel" herunterzuspielen und sie als Nebenprodukte seiner eigentlichen "Mission" darzustellen; andererseits sollen sie jedoch durchaus als äußere Zeichen auf "Babas" behauptete "Göttlichkeit" hinweisen.
Die "Wunder" gehören verschiedenen Kategorien an. Quantitativ dürfte das Produzieren von "heiliger Asche" (vibhuti) wohl an erster Stelle stehen. Sodann folgen das Materialisieren von Objekten (z. B. Schweizer Uhren und Lingams aus Stein oder Gold) durch eine "bloße Handbewegung" und das "Heilen" von "unheilbar Kranken"; sogar Totenauferweckungen sollen schon vorgekommen sein (esotera 1/86, 20). Der indische Wissenschaftler und spätere "Baba"-Anhänger Dr. S. Bhagvatam überliefert ein besonderes Wunder:
Bhagvatam, seinerzeit Direktor des All India Institute of Science/Bangalore, ging eines Tages (1959) mit "Baba" am Ufer des Chitravati-Flusses spazieren. Nachdem der Guru ihn aufgefordert hatte, sich irgendwo im Sand niederzusetzen, mokierte sich "Baba" über die "allwissenden", kritischen Wissenschaftler, die jedoch große Ignoranz hinsichtlich der Weisheit alter Hindu-Schriften zeigten. Als Bhagvatam andeutete, dass sich z. B. der große R. Oppenheimer intensiv mit der Bhagavad-Gita beschäftigt hätte, fragte "Baba": "Möchten Sie ein Exemplar der Gita?" Dabei warf er Sand in die Luft und sagte: "Hier ist es, halten Sie die Hand auf!" Als der Sand in die Hände Bhagvatams fiel, soll er sich in eine rot eingebundene, druckfrische Ausgabe der Gita in der Telugu-Sprache verwandelt haben (Mangalwadi, The World of Gurus, 154 f.).
Anhänger berichten auch von zahlreichen "parapsychologischen" Phänomenen, die sich über große Entfernungen hin ereignen: Baba-Fotos wären plötzlich mit "heiliger Asche" bedeckt gewesen; auf leeren Briefbögen zeigten sich mitunter handschriftliche Notizen des Guru; von ihm "materialisierte" und auf dem Hausaltar liegende Gegenstände hätten zeitweise einen intensiven Blütenduft.
Für außenstehende Beobachter der Szene ist es nicht ganz einfach herauszufinden, was wirklich hinter diesen "Wundern" steckt bzw. welche Tricks hier angewendet werden. Mangalwadi zitiert zwei professionelle Zauberkünstler aus Indien, Narajan Mathur und L. S. Rao, mit der Bemerkung, die behaupteten "Wunder" seien reine Taschenspielertricks. Mathur habe "Baba" angeboten, ihm für den Rest seines Lebens als Sklave zu dienen, wenn "Baba" ihm den Nachweis erbringen könne, dass seine angeblichen "Wunder" übernatürlich seien. Und ein Komitee der Universität Bangalore zur Untersuchung paranormaler Phänomene habe Sathya Sai Baba wiederholt ersucht, die Authentizität seiner "Wunder" wissenschaftlich untersuchen zu lassen, was auf Seiten des Guru jedoch stets auf Ablehnung stieß.
Im Hinblick auf die Herkunft und Beschaffenheit der "heiligen Asche" liegt jedoch ein Gutachten des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts München vom 17. März 1981 vor. Darin heißt es: "Eine eingehende mikroskopisch-anatomische Untersuchung des Pulvers ergab mit sehr großer Wahrscheinlichkeit >gepulverte Asche von Reisspelzen<. (. . .) Weitere Zusätze (Asche anderer Pflanzen) sind nicht ganz auszuschließen." Die abschließende Beurteilung: "Die zur Untersuchung vorliegende >Heilige Asche< besteht aus dem aromatisierten und fein gepulverten Verbrennungsrückstand von Reisspelzen."
Für die "Baba"-Gläubigen selbst gibt es dagegen keinerlei Zweifel daran, dass seine "Wunder" übernatürlich und "göttlich" sind. In den meisten Fällen waren sie denn auch bei ihrer eigenen Bekehrung zum "Baba"-Kult der auslösende Faktor gewesen. Es scheint, als ob die Anhänger des Guru von dessen "Wundern" leben wie von einer Art "prasad", das ihnen die Teilhabe am "Göttlichen" vermittelt."